Mittwoch, 18. Dezember 2019

Das Gehirn mag kein Streß, aber auch keine Isolation...


Geist auf Entzug
Im nachstehenden Artikel wird nachgewiesen, dass das Gehirn kognitive, soziale und emotionale Stimulation benötigt. Nur in der richtigen Dosis. Neurofeedback kann helfen, die Neuroplastizität zu erhöhen.

Unser Gehirn reagiert beängstigend schnell auf Überlastung – aber eben auch auf Isolation. Besonders gefährdet: die Gedächtniszentrale Hippocampus. Was wir aus den schrumpfenden Hirnen von Südpolforschern lernen können. Von Joachim Müller-Jung. Artikel FAZ 18.12.19

Eine Auszeit nehmen, dem Geist Ruhe gönnen, das gehört zum Repertoire vieler mentalen Trainingsangebote, die sich als zeitgemäß verstehen: Meditation, Yoga, Body-and-Mind, Achtsamkeit. Den Geist abkoppeln vom Alltag, dem Stress begegnen durch qualifizierte Stille. Das wirkt nachweislich ganz gut. Was aber, wenn man die Abgeschiedenheit übertreibt? Wenn man den Alltag so für sich organisiert, dass er in soziale Isolation mündet, wenn man sich von seiner Umwelt abkapselt? Dann geschieht offenbar auch etwas Gravierendes mit unserem Gehirn, über dessen Konsequenzen sich die Forschung allerdings noch nicht so richtig im Klaren ist.
Einen durchaus irritierenden Befund in dieser Richtung liefert ausgerechnet ein Weltraummediziner – ein Berliner Hirnforscher, der sich in die Einöde der Antarktis gewagt hat. Alexander Stahn von der Charité beschäftigt sich seit langem mit der sogenannten Plastizität des Gehirns. Dabei geht es um die anfangs belächelte und dann geradezu gierig von den Lebenswissenschaften aufgegriffene Beobachtung, dass die Architektur des Gehirns wider jeder Erwartung und Schulweisheit weit über die Kindheit hinaus bis ins hohe Alter flexibel ist – mehr noch: Die Hirnmasse kann sogar vermehrt werden. Denn auch das alte Gehirn kann neue Zellen bilden. Ende der neunziger Jahre hatte man diese in Tierexperimenten schon nachgewiesene Möglichkeit mit bildgebenden Verfahren auch bei Menschen beobachtet. Speziell die für die Geruchswahrnehmung zuständige Hirnregion – der Riechkolben – sowie der an der Unterseite des Großhirns liegende Seepferdchen-artig aussehende Hippocampus enthalten Stammzellen, die sich ein Leben lang vermehren und zu neuen Hirnzellen reifen können.
Für den Hippocampus interessierte sich Alexander Stahn ganz besonders, denn schon früh war den Hirnforschern klar: Ohne einen gesunden Hippocampus ist gesundes Denken kaum möglich. So klein dieser Teil des Gehirns auch sein mag, der mit vielen anderen darüber liegenden Abschnitten des Großhirns verbunden ist, er ist zentral: ob wir Namen, Telefonnummern oder Ereignisse lernen wollen und im Gedächtnis abspeichern, der Hippocampus organisiert unser Gedächtnis. Er modifiziert aber auch ganz entscheidend unsere Emotionen, und er regiert mit hinein in einige ganz elementare, hormonell beeinflusste Alltagsvorgänge: Schlafrhythmus, Körpertemperatur, Appetit, Stimmungen und Sexualtrieb. Mit anderen Worten: Der zweigeteilte Hippocampus ist Dreh- und Angelpunkt unserer sozialen Bedürfnisse.
Dass ausgerechnet dieser Teil des Gehirns lebenslang frische Zellen liefert, hat nicht nur die Hirnforscher elektrisiert. Was sind die Folgen, fragten sich Mediziner, wenn der Zellnachschub krankheitsbedingt ausfällt – oder einfach nicht ausreicht? Klar ist inzwischen, dass der Hippocampus bei Alzheimer-Patienten extrem stark und offenbar auch schon früh schrumpft. Und in Tierversuchen wurde in den vergangenen Jahren auch schnell deutlich, dass chronischer Stress eine gravierende Wirkung auf den Hippocampus haben kann: Auch in dem Fall schrumpft er. Das berüchtigte, schwache „Stress-Gedächtnis“ könnte tatsächlich das Ergebnis solcher mentalen Erosionen im Hippocampus sein.
Auch wenn die Forschung einen Beweis dafür bisher noch schuldig ist – hochauflösende bildgebende Verfahren, beispielsweise die modernsten Magnetresonanztomographen (MRT), erlauben es inzwischen jedenfalls, genauer hinzusehen. Exakt darauf nun zielt die Forschung des Berliner Weltraummediziners Stahn. Er hat sich aus naheliegenden Gründen auf die Spur eines mentalen Stressfaktors gemacht, der schon bei Versuchstieren als verhaltens- und hirnschädigend aufgefallen war: soziale Isolation. Könnte es, fragte sich Stahn, bei Raumfahrern auf ihren monate- oder jahrelangen Touren durchs All zu kognitiven Defiziten kommen, wenn sie durch fehlende Reize von außen und fehlende soziale Kontakte von ihrer gewohnten Umwelt abgeschnitten sind?
Eine Versuchsanordnung im All war für Stahn nicht zu realisieren, das ist klar. Und bei den ausgedehnten Raumfahrtsimulationen auf Isolierstationen am Boden, die etwa in Moskau schon vor Jahren veranstaltet wurden, hatte man die Hirnforschung nicht berücksichtigt. Erstaunlich genug, denn: „Als das größte Problem der langen Flüge werden direkt hinter der kosmischen Strahlung mögliche kognitive Veränderungen und Verhaltenskomplikationen angesehen“, so Stahn. Nächstes Jahr wolle er solche Versuche zusammen mit der russischen Akademie und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in sechs- bis zwölfmonatigen Isolationsstudien in Moskau nachholen.
In der Zwischenzeit hat Stahn wichtige Informationen in der Antarktis gewonnen. Neun Geowissenschaftler, die jeweils vierzehn Monate auf der deutschen Forschungsstation „Neumayer III“ des Alfred-Wegener-Instituts zugebracht haben, stellten sich für die Hirnstudie zur Verfügung. Einer der Expeditionsteilnehmer schied aus, weil er die Untersuchungen in der MRT-Röhre nicht absolvieren konnte, die vor und nach dem Antarktisaufenthalt notwendig waren. Dazu kamen Blutuntersuchungen und Kognitionstests, die noch während des Forschungsaufenthaltes in der Eiswüste vorgenommen wurden. Stahn führte zudem auf der Station Gedächtnistests durch und ermittelte im Blut den Gehalt an BDNF. Dieser im Hippocampus entscheidende Wachstumsfaktor – „Brain-Derived Neurotrophic Factor“ – gilt als aussagekräftiger Biomarker für die Plastizität des Gehirns.
Was bei den Messungen der jungen Expeditionsteilnehmer herauskam und inzwischen auch in der international hoch- geachteten Medizinzeitschrift „New England Journal of Medicine“ (doi: 10.1056/NEJMc1914045) nachzulesen ist, hat Stahn überrascht. „Innerhalb von zwei bis drei Monaten waren bereits die Veränderungen erkennbar“, sagt Stahn. Die BDNF-Werte gingen zurück, auch bestimmte kognitive Leistungsparameter, die vor allem das räumliche Gedächtnis und die Aufmerksamkeit betreffen, waren nach einigen Monaten in der eisigen Einöde reduziert. „So plastisch unser Gehirn ist, so verletzlich ist es offenbar auch“, sagt Stahn. Der anschließende Vergleich der Hirnaufnahmen mit gleichaltrigen Probanden in Berlin zeigte, dass die graue Hirnsubstanz bei den Antarktisfahrern in einigen Arealen der Großhirnrinde durchweg rückläufig war. Kein Hirnareal schrumpfte aber so eklatant wie der Hippocampus: Um 19 bis 55 Kubikmillimeter oder – auf das Gesamtvolumen des Hippocampus gerechnet – vier bis elf Prozent sei das Gedächtniszentrum kleiner geworden. Und zwar genau jener Teilbereich, Gyrus dentatus genannt, der als der Entstehungsort frischer Nervenzellen aus Stammzellen ausgemacht worden war.
Inwiefern diese architektonischen und kognitiven Einbußen nun die Hirnleistungen insgesamt einschränken, ob und wie schnell sie reversibel sind, all das konnte Stahn noch nicht klären. Anderthalb Monate nach ihrer Rückkehr waren die niedrigen BDNF-Werte bei den acht Antarktisfahrern jedenfalls noch immer nicht wiederhergestellt. Trotzdem: Von Spätschäden kann noch längst nicht gesprochen werden. Für Stahn sind die Beobachtungen vor allem erst einmal ein Beleg dafür, wie schnell das Gehirn strukturell auf Stress reagieren kann. Einen Beleg dafür lieferten im Sommer auch indische Forscher des National Centre for Biological Sciences zusammen mit Hirnforschern des Trinity College in Dublin. In „Scientific Reports“ berichteten sie, wie in Ratten selbst kurze Phasen von angstauslösendem Stress schon nach drei Tagen zu messbaren Hippocampus-Schrumpfungen führten.
Für Mediziner dürften Stahns Ergebnisse ein weiterer Hinweis dafür sein, wie wichtig es gerade auch für ältere Menschen ist, Isolation und Passivität möglichst zu vermeiden. Eine reiche Umwelt, Abwechslung und Kontakte trainieren das Gehirn – außerdem auch körperliche Bewegung, die generell die Erneuerung der Hirn-Stammzellen anregt.
Wie das künftig bei Raumfahrern im All gelingen könnte, will Stahn in seinen Folgeversuchen zuerst in Moskau und anschließend mit von der Nasa ausgewählten Probanden testen. Ausgestattet mit Virtual-Reality-Brillen sollen sie unterschiedlichen Reizen ausgesetzt werden: Stressreduktion durch gezielte Reizung – der Gegenentwurf zur mentalen Auszeit.

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