Aus der „TAZ“: Interview Lernwerk – TAZ zum Thema
ADHS und Medikation
TAZ – Interview November 2014
„Ich will die Ursachen behandeln“
ADS, ADHS, LRS oder
Dyskalkulie – viele Kinder laufen mit dieser Diagnose herum. Zu Unrecht sagt
Svend Holger Schulze (55), Geschäftsführer der LERNWERK Buntstift GmbH. Die
meisten von ihnen haben ganz andere Probleme.
Frage:
Sie haben vor 12 Jahren ihren Job als
Geschäftsführer eines großen Bauunternehmens aufgegeben, um eine Nachhilfe und
Therapieeinrichtung zu gründen. Wie kam es dazu?
Svend Holger Schulze:
Ich selbst
habe als Kind schlechte Erfahrungen mit dem Schulsystem gemacht. Mit 15 Jahren
musste ich die Realschule verlassen, weil ich nach Ansicht meiner Lehrer nicht
gut genug war. Nach der Hauptschule habe ich den Realschulabschluss aber
nachgeholt, Abitur gemacht, studiert und ein Unternehmen geleitet. Ich hab’s
also geschafft, mich hochzuarbeiten. Viele Kinder fallen aber durch das Raster.
Wenn sie in der Schule nicht mitkommen oder unruhig sind, bekommen sie schnell
den Stempel ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) oder ADHS
(Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) aufgedrückt. Oder die
Lehrer sagen: Das Kind hat eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder leidet
unter Dyskalkulie (Rechenschwäche).
Das hat mich, auch als Vater zweier Kinder,
immer gestört. Vor 12 Jahren habe ich deshalb meinen Job als Geschäftsführer an
den Nagel gehängt und mir das Bildungssystem in den Benelux-Ländern, in der
Schweiz oder Kanada angeguckt. Ich habe festgestellt, dass man dort anders mit
Kindern umgeht, die Probleme haben. Man setzt sich mit den Ursachen auseinander
und therapiert. In Deutschland betrachtet man nur die Symptome, drückt den
Kindern einen Stempel auf oder verschreibt Medikamente. Ich wollte das ändern
und habe die LERNWERK Buntstift GmbH gegründet. Wir geben normale Nachhilfe und
bieten zum anderen Therapien an für Kinder, die mit einer vermeintlichen Lern-
oder Konzentrationsstörung zu uns kommen.
Mit einem vermeintlichen ADHS?
Ja. 80 Prozent aller Kinder, die mit ADS oder
auch mit LRS zu uns geschickt werden, haben eigentlich ein anderes Problem. Bei
ADS liegen oft Defizite in der frühkindlichen Entwicklung oder ein geringes
Selbstwertgefühl vor. Bei einer LRS kann es sich um ein Hörwahrnehmungsdefizit
handeln. Die Kinder haben Schwierigkeiten, Tonhöhen zu unterscheiden. Das führt
dazu, dass sie nicht richtig betonen oder den Unterschied zwischen p und b
nicht erkennen. Manche haben auch eine Blicksteuerungsauffälligkeit. Diese
Kinder überspringen beim Lesen Zeilen. All diese Probleme kann man statt mit
Medikamenten mit Therapien behandeln.
Wenn Eltern nun mit ihren Kindern zu Ihnen
kommen. Was machen Sie dann?
Zuerst führen wir ein Gespräch mit den Eltern.
Mit Hilfe eines Fragebogens suchen wir nach Problemen in der frühkindlichen
Entwicklung, nach Traumata, Ängsten und Unsicherheiten. Hier kann ein
vermeintliches ADS oder ADHS eine Ursache haben. Auch mediale Reizüberflutung
kann eine Ursache sein. Da können dann Psychologen helfen.
In einem zweiten Schritt untersuchen
Therapeuten die Kinder. Sie überprüfen etwa, wie schnell ein Kind Tonhöhen differenzieren
kann. Oft stellen sie Wahrnehmungs- oder Entwicklungsdefizite fest. Der Bericht
der Therapeuten geht dann an den Lehrer oder den behandelnden Arzt des Kindes.
Wenn der Arzt die Therapie verschreibt, können unsere Therapeuten mit der
Arbeit beginnen.
Wie sieht diese Therapie aus?
Die Hörwahrnehmung kann man durch ein
spezielles Training verbessern. Dabei lesen Schüler und Therapeut gleichzeitig
einen Text. Die Stimmen laufen über einen Computer und das Kind hört sie wieder
über Kopfhörer. Der Computer fügt Störgeräusche bei oder versetzt die Stimme
des Therapeuten um eine Millisekunde. Dadurch kann man auf Dauer trainieren,
dass beide Gehirnhälften synchron arbeiten. Eine Blicksteuerungsproblematik
kann man mit speziellen Brillen trainieren. Das Gute an dem neurologischen
Training ist: Wenn die Therapie nach sechs bis acht Monaten beendet ist, ist
das Wahrnehmungsproblem therapiert und kommt nicht zurück.
Sind Medikamente immer der falsche Weg?
Es gibt einige wenige Fälle mit „echtem“ ADS oder
ADHS. Dann kann es sinnvoll sein, für einige Monate Ritalin oder ein anderes
Medikament einzusetzen. Allerdings nur solange, bis das Kind therapiefähig ist.
Warum gibt es Ihrer Meinung nach so viele
Kinder, die mit der Diagnose ADS, ADHS, LRS oder Dyskalkulie herumlaufen?
Ich glaube, dass es auf der einen Seite ein
einträgliches Geschäft ist. Die Pharmakonzerne wollen natürlich ihre
Medikamente verkaufen. Auf der anderen Seite ist es auch unsere Gesellschaft, die
es gewohnt ist, für ein Problem sofort eine Lösung zu haben. Wenn man einem
unruhigen Kind ein Medikament gibt und es läuft danach besser, ist das ja auf
dem ersten Blick eine gute Lösung. Nur wenn man das Medikament absetzt, ist das
ADS oder ADHS wieder da. Wenn man dagegen die Ursachen behandelt, hilft man dem
Kind langfristig.
Vom Schulverweis zur
Unternehmensgründung
Kurzer Lebenslauf von Svend
Holger Schulze
Am 25. März 1959 kommt Svend Holger Schulze in
Flensburg zur Welt. Mit 15 Jahren muss er die Realschule verlassen, weil er
laut seinen Lehrern den Abschluss dort nicht schaffen würde. Er macht einen
Hauptschulabschluss und anschließend, 1974, eine Augenoptikerlehre. Nach seinem
Zivildienst holt er seinen Realschulabschluss nach, macht Anfang der 80er Jahre
sein Abitur und studiert in Kiel Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Nach der
Wende arbeitet er bei der Treuhand in Thüringen, wird anschließend Vorstand und
Holdinggesellschafter eines mittelständischen Unternehmen aus dem Baugewerbe.
2002 steigt er aus und baut die LERNWERK Buntstift GmbH auf. Heute gibt es
davon neun Standorte und fünf Ergotherapiepraxen. Svend Holger Schulze ist
verheiratet und hat zwei Kinder, die 15 und 18 Jahre alt sind.
Von Anne Passow