Sonntag, 29. Dezember 2019

Genial: Lebenslanges Lernen für Eltern, einfach mal wieder mit dem Kind zur Schule gehen...


aus F.A.S. - LEBEN
Mama, machen wir jetzt mein Referat?
Mehr als zehn Jahre lang hat Anke Willers die Hilfslehrerin für ihre beiden Töchter gespielt. Sie wusste, es ist pädagogisch falsch – aber die Schulen erwarten es stillschweigend, und alle Eltern tun es. Jetzt hat sie ein Buch darüber geschrieben. Ein Vorabdruck.
Vielleicht ist es das bayerische Schulsystem, vielleicht hatten meine Kinder auch besonders ambitionierte Erstklasslehrer, vielleicht hatten die Mütter im Kindergarten doch recht gehabt mit ihrer vorschulischen Leseförderung – auf jeden Fall war die Botschaft bei beiden Kindern: „Bis Weihnachten müssen die einigermaßen lesen können. Und deshalb müssen Sie üben, üben, üben. Jeden Tag mindestens 15 Minuten, besser mehr“, hieß es am ersten Elternabend.
Mit „Sie“ war ich gemeint. Oder der Kindsvater. Oder die Omas und Opas. Da unsere Großeltern Hunderte von Kilometern entfernt lebten und der Kindsvater am anderen Ende der Stadt Vollzeit arbeitete, blieb nur ich übrig. Denn ich hatte meine Stunden in der Redaktion wegen der Kinder reduziert.
Letzteres war auch nötig, denn bis Weihnachten war nicht viel Zeit. Ich versuchte damals auch, mich daran zu erinnern, wann ich selbst lesen gelernt hatte. Ich glaube, ich konnte es erst irgendwann um Pfingsten – was aus bayerischer Sicht kein Wunder ist, denn in Bayern gelten Menschen, die in nördlichen Bundesländern zur Schule gegangen sind, gerne mal als arme Würstchen mit Spar-Abitur.
Als meine Töchter in die Grundschule gingen, gab es für Leseanfänger Arbeitsblätter und -bücher mit „Mimi, die Lesemaus“. Bis heute habe ich eine gewisse Hochachtung vor den Leuten, die sich die Erstklassmaterialien ausdenken. Ich meine, das muss man erst mal hinkriegen: Lesesätze kreieren, wenn man dafür nur das A, das I und eine Handvoll weiterer Laute zur Verfügung hat. Die Macher der Erstklasslesebücher schienen da allerdings völlig schmerzbefreit und dichteten Sätze von schlichter Schönheit: „Mimi malt lila Marias.“ „Backmeister Bimbam backt braune Brezn.“ „Oma ist am Lamm.“ „Ali ist am Ast.“
Mal abgesehen davon, dass es mir oft schwerfiel, bei dieser Lektüre konzentriert zu bleiben und nicht nebenher die Spülmaschine auszuräumen oder wenigstens die Post durchzusehen, war ich immer froh, wenn die Kinder keine weiteren Fragen stellten. Ich wäre relativ ratlos gewesen, wenn sie gefragt hätten, was es bedeutet, dass Ali am Ast ist. Hat der Mann Selbstmordabsichten? Handelt es sich um einen Waldarbeiter mit Migrationshintergrund? Und warum ist Oma am Lamm? Zum Streicheln. Zum Kochen. Oder muss sie ihre Rente aufbessern und arbeitet stundenweise in der Frischfleischabteilung?
Fakt war: Wir übten. Und ich versuchte dabei möglichst wenig vorzusagen. Doch anscheinend war das nicht genug. Im Mitteilungsheft stand regelmäßig: „Greta liest die neuen Wörter zu stockend und zu ungenau und muss mehr üben.“
Und in den Schreibheften, die ich wegen der lustigen Verballhornungen jahrelang aufgehoben habe, gab es neben dem „Furzelgemüse“ Kommentare in roter Korrekturschrift: „Wurzelgemüse! Greta, übe den Unterschied zwischen dem weichen W und dem scharfen F.“ Oder: „Bitte die Merkwörter noch mal ordentlich abschreiben.“ Oder: „Greta, gib Acht beim G: Das Schwänzchen muss nach unten in den Keller.“
Wie ich versuchte, mich zu kümmern – aber nicht zu viel
Eltern sollten keinen Druck machen.
Eltern sollten keinen Druck machen.
Eltern sollten keinen Druck machen.
Diesen Satz habe ich so oft gehört, dass ich ihn hier gleich mehrmals hinschreiben muss. Manchmal stand er sogar in der Zeitung. Meistens dann, wenn es Zeugnisse gab und meine Journalisten-Kollegen von den Tageszeitungen Psychologen zum Thema schlechte Noten befragten. Deren Credo lautete: „Bitte ganz entspannt bleiben. Immer dran denken: Kein Kind will schlechte Noten haben. Und: Bitte! Keinen! Druck! Machen!“
Natürlich sollen Eltern keinen Druck machen auf Kinder, die sieben Jahre alt sind oder acht. Auch nicht auf Kinder, die zwölf sind oder 13. Druck macht eine Matschbirne. Druck ist schlecht, wenn man herausfinden soll, wie lange die Nacktschnecke Gertrud kriechen muss, wenn sie zehn Zentimeter in der Minute schafft und die Straße, über die sie will, drei Meter breit ist.
Mir war das klar. Ich spürte aber auch sehr deutlich: Wir Eltern sollen uns um die Schulbelange unserer Kinder kümmern, wir sollen uns einbringen. Die Schule braucht uns, weil sie personell und auch sonst so knapp bestückt ist, dass der Laden ohne elterliche Unterstützung nicht läuft.
Kann man als berufstätige Mutter in diesem ganzen Durcheinander von widersprüchlichen Botschaften einigermaßen entspannt bleiben?
Ja, man kann. Und auch, wenn es viel Kraft kostet: Solange die Kinder gut in der Schule sind und wenn alles läuft, wie es soll, kriegt man es irgendwie hin. Ohne Burnout. Ohne Helikopter. Und ohne dass das schlechte Gewissen übermächtig wird. Aber wenn es nicht so läuft, ist es fast unmöglich.
Wenn es nicht so läuft in der Schule, fällt einem die Mutterrolle nämlich auf die Füße. Oder das, was die Gesellschaft unter einer guten Mutter versteht. Dann heißt es: „Du musst dich mehr kümmern. Aber bitte ganz entspannt und auch nicht zu viel. Denn wenn du dich zu viel und unentspannt kümmerst, bist du eine Helikoptermutter, eine Tiger Mom, eine hysterische Eislaufmutter.“ Alles irgendwie unsympathisch – und alles auch wieder falsch.
Es ist verdammt schwer, sich genau richtig zu kümmern, wenn es nicht läuft in der Schule. Dann bedeutet Kümmern nämlich auch: Hausaufgaben nach dem Hort anschauen. Feststellen, dass sechs von zehn Matheaufgaben falsch sind und dass das Kind das Prinzip nicht richtig verstanden hat. Abends um fünf das Kind dazu bringen, sich die Sache noch mal anzuschauen. Und dann aushalten, wenn es vor Wut gegen die Schultasche tritt und „Scheiß Schule“ brüllt.
Oder bei der Drittklässlerin freitags nachfragen: „Sag mal, schreibt ihr nicht bald wieder Deutsch?“
„Mmh ...“
„Wann denn?“
„Nächsten Montag.“
„Oh, da musst du ja dann noch üben!“
„Samstag wollte ich aber schwimmen gehen, es soll 30 Grad werden ... Und am Sonntag ist Geburtstag bei Lisa.“
„Aber du hattest in der letzten Deutscharbeit eine Vier minus ...“
„Mama, ich will aber mit!“
Wenn es nicht läuft, steht im Zwischenzeugnis der dritten Klasse unter „ergänzende Bemerkungen“:
„Ida wendet die erlernte Abschreibtechnik noch nicht konsequent an. Auch zu Hause sollte sie vorher an die Abfolge der einzelnen Schritte erinnert werden. Ein Mitsprechen der jeweils zutreffenden Regel beim Schreiben würde ihre Rechtschreibsicherheit erhöhen. Im Bereich Schreiben sind der zusätzliche Übungsaufwand und die vermehrte Aufmerksamkeit beim Abschreiben von Texten sicherlich lohnend. Förderbedarf besteht auch bei den Einmaleinsreihen, welche noch intensiver eingeübt werden müssen. Mithilfe der Hefteinträge sollten auch zu Hause die Eigenschaften von Körpern wiederholt werden.“
Wie das Russische Reich
zerfiel und ich nicht dabei war
Kurz nach meinem Umzug in den Norden wurde Greta in ihrer Schule ein großes Referat angekündigt. Es trug den Titel: „Die Neuordnung Osteuropas nach 1918/1919“. Und es gehörte zur traditionellen Projektpräsentation, die viele der hiesigen Realschulen in der Neunten auf dem Lehrplan stehen haben. Sie umfasste ein 45-minütiges Gruppenreferat – mit Powerpoint-Präsentation und Plakat – sowie eine 20-seitige schriftliche Ausarbeitung mit Auswertung von Sekundärliteratur und Handout. Das Ganze sollte in Deutsch wie eine Schulaufgabe zählen und in Geschichte und IT wie eine Stegreifaufgabe.
Schon Wochen und Monate vor Beginn dieses Projekts waren alle aufgeregt. Denn keiner wusste so genau: Wie macht man so ein Referat mit 20 Seiten? Wie arbeitet man mit Sekundärliteratur? Wie macht man eine gute Präsentation? Die Schule bot zwar Hilfestellung an, aber selbst Eltern, die sonst nie den Personal Trainer gaben, war klar: Bei so einem großen Projekt müssen wir jetzt auch mit ran. Ohne uns geht das nicht. Schließlich sind Referate die Paradedisziplin für engagierte Hilfslehrer. Fast alle Eltern helfen. Und es soll sogar welche geben, die schreiben später an der Uni noch bei den Seminararbeiten mit.
Ja, natürlich ist das pädagogisch falsch. Es ist auch das Gegenteil von Chancengleichheit für die Kinder. Und ein weiteres schönes Beispiel dafür, warum Schulerfolg vom Elternhaus abhängt: Wer zu Hause Eltern hat, die einen ordentlichen Computer haben, einen Farbdrucker, Kenntnisse im Erstellen und Strukturieren von Präsentationen und vor allem Zeit, sich damit zu befassen, ist klar im Vorteil. Wer das nicht hat – Pech gehabt!
Denn auch wenn die meisten Lehrer es nicht laut sagen würden: Viele scheinen schlicht davon auszugehen, dass zu Hause jemand ist, der sich schon um die Referat-Genese kümmern wird. Oder wie sonst kann man es interpretieren, wenn schon Drittklässler aufgefordert werden, ein kleines Referat zum Killerwal zu machen: „Wir sollen ein paar Infos aus dem Netz holen, Mama. Aber ich darf ja gar nicht alleine an den Computer. Kannst du mit mir mal in das Erwachsenen-Internet gehen und gucken, wie der Killerwal seine Babys kriegt? Und dann sollen wir ein paar Fotos ausdrucken. Und Mama, wie macht man dann dazu fünf Minuten Referat?“
„Man überlegt sich, was wichtig ist. Und macht dazu Stichworte auf ein Blatt. Oder noch besser auf Karteikarten. Und dann erzählt man das vor den anderen.“
„Aber die Lehrerin hat gesagt, wir sollen dazu ein Plakat machen.“
In der Sechsten kommt dann das Englischreferat über ein Thema der Wahl.
„Mama, ich nehm’ James Bond“, sagt das Kind. „Ich mag den Daniel Craig. He’s a very good-looking guy.“
„Also gut“, sagt die mütterliche Hilfslehrkraft, „dann recherchier mal. Und dann machen wir ein rehearsal.“
„Re ... was? Aber Mama, was kann ich denn noch schreiben außer das mit dem good-looking?“, fragt das Kind, und schon fängt die mütterliche Hilfskraft an zu googeln: Aston Martin, Ursula Andress, Sean Connery, Skyfall, Casino Royale.
Jetzt also die Neuordnung Osteuropas nach 1918/19 auf 20 Seiten. Und ich war nicht da.
Greta schimpfte noch ein bisschen. Dann ging sie in die Stadtbücherei und holte Bücher. Versuchte Sekundärliteratur zu verstehen und Übersetzungen von Quellen. Fragte Google, Wikipedia und die üblichen Verdächtigen im Netz. Und wurschtelte sich durch die verschiedenen Frontverläufe und Abspaltungsbestrebungen der osteuropäischen Länder zwischen 1914 und 1918, während ich in meiner Hamburger Redaktion Texte aus dem 21. Jahrhundert bearbeitete.
Am Abend saß das Kind in München mit dem historisch interessierten Vater auf dem Sofa und redete über Lenin, den Zaren und die Unabhängigkeit Weißrusslands. Am Ende hatte es den Blocksatz vergessen, die Sekundärliteratur nicht ganz richtig zitiert und wusste in der Ausfragestunde nicht genau, was Kapitalismus ist. Das gab ein paar Punkte Abzug bei Pflicht und Kür. Ich gab ihr eine Eins mit Sternchen für selbständiges Arbeiten. Und mir ebenfalls: fürs Raushalten.
Die hier abgedruckten Auszüge sind Anke Willers’ Buch
„Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?“
entnommen, das am 8. Juli erscheint; Heyne Verlag, 19,99 Euro, 272 Seiten.

Was ist eigentlich diese Lernwerk Methode? Das Video klärt auf.

Die Lernwerk Methode! Jetzt informieren.

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Das Gehirn mag kein Streß, aber auch keine Isolation...


Geist auf Entzug
Im nachstehenden Artikel wird nachgewiesen, dass das Gehirn kognitive, soziale und emotionale Stimulation benötigt. Nur in der richtigen Dosis. Neurofeedback kann helfen, die Neuroplastizität zu erhöhen.

Unser Gehirn reagiert beängstigend schnell auf Überlastung – aber eben auch auf Isolation. Besonders gefährdet: die Gedächtniszentrale Hippocampus. Was wir aus den schrumpfenden Hirnen von Südpolforschern lernen können. Von Joachim Müller-Jung. Artikel FAZ 18.12.19

Eine Auszeit nehmen, dem Geist Ruhe gönnen, das gehört zum Repertoire vieler mentalen Trainingsangebote, die sich als zeitgemäß verstehen: Meditation, Yoga, Body-and-Mind, Achtsamkeit. Den Geist abkoppeln vom Alltag, dem Stress begegnen durch qualifizierte Stille. Das wirkt nachweislich ganz gut. Was aber, wenn man die Abgeschiedenheit übertreibt? Wenn man den Alltag so für sich organisiert, dass er in soziale Isolation mündet, wenn man sich von seiner Umwelt abkapselt? Dann geschieht offenbar auch etwas Gravierendes mit unserem Gehirn, über dessen Konsequenzen sich die Forschung allerdings noch nicht so richtig im Klaren ist.
Einen durchaus irritierenden Befund in dieser Richtung liefert ausgerechnet ein Weltraummediziner – ein Berliner Hirnforscher, der sich in die Einöde der Antarktis gewagt hat. Alexander Stahn von der Charité beschäftigt sich seit langem mit der sogenannten Plastizität des Gehirns. Dabei geht es um die anfangs belächelte und dann geradezu gierig von den Lebenswissenschaften aufgegriffene Beobachtung, dass die Architektur des Gehirns wider jeder Erwartung und Schulweisheit weit über die Kindheit hinaus bis ins hohe Alter flexibel ist – mehr noch: Die Hirnmasse kann sogar vermehrt werden. Denn auch das alte Gehirn kann neue Zellen bilden. Ende der neunziger Jahre hatte man diese in Tierexperimenten schon nachgewiesene Möglichkeit mit bildgebenden Verfahren auch bei Menschen beobachtet. Speziell die für die Geruchswahrnehmung zuständige Hirnregion – der Riechkolben – sowie der an der Unterseite des Großhirns liegende Seepferdchen-artig aussehende Hippocampus enthalten Stammzellen, die sich ein Leben lang vermehren und zu neuen Hirnzellen reifen können.
Für den Hippocampus interessierte sich Alexander Stahn ganz besonders, denn schon früh war den Hirnforschern klar: Ohne einen gesunden Hippocampus ist gesundes Denken kaum möglich. So klein dieser Teil des Gehirns auch sein mag, der mit vielen anderen darüber liegenden Abschnitten des Großhirns verbunden ist, er ist zentral: ob wir Namen, Telefonnummern oder Ereignisse lernen wollen und im Gedächtnis abspeichern, der Hippocampus organisiert unser Gedächtnis. Er modifiziert aber auch ganz entscheidend unsere Emotionen, und er regiert mit hinein in einige ganz elementare, hormonell beeinflusste Alltagsvorgänge: Schlafrhythmus, Körpertemperatur, Appetit, Stimmungen und Sexualtrieb. Mit anderen Worten: Der zweigeteilte Hippocampus ist Dreh- und Angelpunkt unserer sozialen Bedürfnisse.
Dass ausgerechnet dieser Teil des Gehirns lebenslang frische Zellen liefert, hat nicht nur die Hirnforscher elektrisiert. Was sind die Folgen, fragten sich Mediziner, wenn der Zellnachschub krankheitsbedingt ausfällt – oder einfach nicht ausreicht? Klar ist inzwischen, dass der Hippocampus bei Alzheimer-Patienten extrem stark und offenbar auch schon früh schrumpft. Und in Tierversuchen wurde in den vergangenen Jahren auch schnell deutlich, dass chronischer Stress eine gravierende Wirkung auf den Hippocampus haben kann: Auch in dem Fall schrumpft er. Das berüchtigte, schwache „Stress-Gedächtnis“ könnte tatsächlich das Ergebnis solcher mentalen Erosionen im Hippocampus sein.
Auch wenn die Forschung einen Beweis dafür bisher noch schuldig ist – hochauflösende bildgebende Verfahren, beispielsweise die modernsten Magnetresonanztomographen (MRT), erlauben es inzwischen jedenfalls, genauer hinzusehen. Exakt darauf nun zielt die Forschung des Berliner Weltraummediziners Stahn. Er hat sich aus naheliegenden Gründen auf die Spur eines mentalen Stressfaktors gemacht, der schon bei Versuchstieren als verhaltens- und hirnschädigend aufgefallen war: soziale Isolation. Könnte es, fragte sich Stahn, bei Raumfahrern auf ihren monate- oder jahrelangen Touren durchs All zu kognitiven Defiziten kommen, wenn sie durch fehlende Reize von außen und fehlende soziale Kontakte von ihrer gewohnten Umwelt abgeschnitten sind?
Eine Versuchsanordnung im All war für Stahn nicht zu realisieren, das ist klar. Und bei den ausgedehnten Raumfahrtsimulationen auf Isolierstationen am Boden, die etwa in Moskau schon vor Jahren veranstaltet wurden, hatte man die Hirnforschung nicht berücksichtigt. Erstaunlich genug, denn: „Als das größte Problem der langen Flüge werden direkt hinter der kosmischen Strahlung mögliche kognitive Veränderungen und Verhaltenskomplikationen angesehen“, so Stahn. Nächstes Jahr wolle er solche Versuche zusammen mit der russischen Akademie und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in sechs- bis zwölfmonatigen Isolationsstudien in Moskau nachholen.
In der Zwischenzeit hat Stahn wichtige Informationen in der Antarktis gewonnen. Neun Geowissenschaftler, die jeweils vierzehn Monate auf der deutschen Forschungsstation „Neumayer III“ des Alfred-Wegener-Instituts zugebracht haben, stellten sich für die Hirnstudie zur Verfügung. Einer der Expeditionsteilnehmer schied aus, weil er die Untersuchungen in der MRT-Röhre nicht absolvieren konnte, die vor und nach dem Antarktisaufenthalt notwendig waren. Dazu kamen Blutuntersuchungen und Kognitionstests, die noch während des Forschungsaufenthaltes in der Eiswüste vorgenommen wurden. Stahn führte zudem auf der Station Gedächtnistests durch und ermittelte im Blut den Gehalt an BDNF. Dieser im Hippocampus entscheidende Wachstumsfaktor – „Brain-Derived Neurotrophic Factor“ – gilt als aussagekräftiger Biomarker für die Plastizität des Gehirns.
Was bei den Messungen der jungen Expeditionsteilnehmer herauskam und inzwischen auch in der international hoch- geachteten Medizinzeitschrift „New England Journal of Medicine“ (doi: 10.1056/NEJMc1914045) nachzulesen ist, hat Stahn überrascht. „Innerhalb von zwei bis drei Monaten waren bereits die Veränderungen erkennbar“, sagt Stahn. Die BDNF-Werte gingen zurück, auch bestimmte kognitive Leistungsparameter, die vor allem das räumliche Gedächtnis und die Aufmerksamkeit betreffen, waren nach einigen Monaten in der eisigen Einöde reduziert. „So plastisch unser Gehirn ist, so verletzlich ist es offenbar auch“, sagt Stahn. Der anschließende Vergleich der Hirnaufnahmen mit gleichaltrigen Probanden in Berlin zeigte, dass die graue Hirnsubstanz bei den Antarktisfahrern in einigen Arealen der Großhirnrinde durchweg rückläufig war. Kein Hirnareal schrumpfte aber so eklatant wie der Hippocampus: Um 19 bis 55 Kubikmillimeter oder – auf das Gesamtvolumen des Hippocampus gerechnet – vier bis elf Prozent sei das Gedächtniszentrum kleiner geworden. Und zwar genau jener Teilbereich, Gyrus dentatus genannt, der als der Entstehungsort frischer Nervenzellen aus Stammzellen ausgemacht worden war.
Inwiefern diese architektonischen und kognitiven Einbußen nun die Hirnleistungen insgesamt einschränken, ob und wie schnell sie reversibel sind, all das konnte Stahn noch nicht klären. Anderthalb Monate nach ihrer Rückkehr waren die niedrigen BDNF-Werte bei den acht Antarktisfahrern jedenfalls noch immer nicht wiederhergestellt. Trotzdem: Von Spätschäden kann noch längst nicht gesprochen werden. Für Stahn sind die Beobachtungen vor allem erst einmal ein Beleg dafür, wie schnell das Gehirn strukturell auf Stress reagieren kann. Einen Beleg dafür lieferten im Sommer auch indische Forscher des National Centre for Biological Sciences zusammen mit Hirnforschern des Trinity College in Dublin. In „Scientific Reports“ berichteten sie, wie in Ratten selbst kurze Phasen von angstauslösendem Stress schon nach drei Tagen zu messbaren Hippocampus-Schrumpfungen führten.
Für Mediziner dürften Stahns Ergebnisse ein weiterer Hinweis dafür sein, wie wichtig es gerade auch für ältere Menschen ist, Isolation und Passivität möglichst zu vermeiden. Eine reiche Umwelt, Abwechslung und Kontakte trainieren das Gehirn – außerdem auch körperliche Bewegung, die generell die Erneuerung der Hirn-Stammzellen anregt.
Wie das künftig bei Raumfahrern im All gelingen könnte, will Stahn in seinen Folgeversuchen zuerst in Moskau und anschließend mit von der Nasa ausgewählten Probanden testen. Ausgestattet mit Virtual-Reality-Brillen sollen sie unterschiedlichen Reizen ausgesetzt werden: Stressreduktion durch gezielte Reizung – der Gegenentwurf zur mentalen Auszeit.

Dienstag, 10. Dezember 2019

Neuonale Netzwerke bilden sich neu, selbst bei Hemispärentrennung. Neurfeedback kann den Prozeß vermutlich beschleunigen.

Anders vernetzt

Gehirne von Erwachsenen, denen im Kindesalter aufgrund von epileptischen Krampfanfällen eine Hirnhemisphäre entfernt wurde, zeigen eine starke Vernetzung zwischen unterschiedlichen Gehirn-Netzwerken. Dies könnte dem Körper dazu dienen, den Verlust zu kompensieren. 
Nach Angaben der Caltech Wissenschaftler wiesen alle Studienteilnehmer mit nur einer Hemisphäre relativ normale kognitive Fähigkeiten auf. Untersucht wurden die Gehirne von sechs Personen mit Hemisphärektomie und sechs Kontrollpersonen. Bei allen Studienteilnehmern wurde mittels funktioneller Magnetresonanztomographie die spontane Gehirnaktivität in Ruhe gemessen. Dabei beobachteten die Wissenschaftler Netzwerke von Hirnregionen, die für die Kontrolle von Bewegung, Emotionen, Kognition und Sehen verantwortlich sind und verglichen ihre Ergebnisse mit Daten aus einer Datenbank mit rund 1.500 typischen Gehirnen.

Beeindruckende Reorganisation nach Verletzung

Die Forscher erwarteten, schwächere Verbindungen innerhalb bestimmter Netzwerke bei den Personen mit Hemisphärektomie vorzufinden, da viele dieser Netzwerke normalerweise beide Hemisphären umfassen. Stattdessen konnten sie eine erstaunlich normale globale Vernetzung sowie stärkere Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Netzwerken feststellen als bei den Kontrollpersonen. Alle Studienteilnehmer mit nur einer Hemisphäre befanden sich im Alter zwischen 20 und Mitte 30, mussten sich jedoch zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Kindheit einer Hemisphärektomie unterziehen.
Deshalb hoffen die Wissenschaftler, anhand der Daten und in zukünftigen Studien Rückschlüsse darauf ziehen zu können, wie das Gehirn sich nach Verletzungen reorganisiert. Die Forscher möchten zudem besser verstehen können, wie das Gehirn sich entwickelt, sich selbst organisiert und wie es bei Personen funktioniert, die Atypien im Gehirn aufweisen. Ein langfristiges Ziel der Studien ist es zudem, Familien und Ärzten dabei zu helfen, besser informierte Entscheidungen zu treffen.
Quellen & Bild: © W. Clavin / Caltech & D. Kliemann et al. / Cell Reports
© Copyright 22.11.2019