Dienstag, 30. Oktober 2012

Mit Ritalin in die Prüfung

Studie der Uni Mainz: Jeder fünfte Student greift zu angeblich leistungssteigernden
Medikamenten

miwe. MAINZ. Die Gesellschaftsdroge ohne Nebenwirkungen, die der Autor Aldous Huxley in den dreißiger Jahren in seinem Zukunftsszenario beschreibt, kann die Pharmaindustrie heute noch nicht herstellen. Abnehmer für Präparate mit weniger Nutzen und höherem Risiko gibt es unter Studenten auch heute schon genug. Das belegt eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Universität Mainz, die in den nächsten Wochen veröffentlicht wird.

In Zusammenarbeit mit der Sportmedizin hat das Institut etwa 2500 Studenten gefragt, ob sie im vergangenen Jahr verschreibungspflichtige Medikamente, Stimulanzien oder Koffeintabletten zu sich genommen haben, um ihre Prüfungsleistung zu verbessern. 20 Prozent gaben an, sich mit Koffeintabletten, dem Medikament Ritalin oder gar illegalen Aufputschmitteln gedopt zu haben.


"Von einer Zunahme des Konsums können wir allerdings nicht sprechen, da wir keine Vergleichsdaten aus früheren Jahren haben"
, sagt Klaus Lieb, der Leiter der Studie. Was er sieht, ist eine Entwicklung, wie sie in den Vereinigten Staaten schon lange zu beobachten ist. Immer mehr Studenten möchten das Beste aus sich herausholen und greifen deshalb zu chemischen Mitteln.

Philipp Keller (Name geändert) ist einer von ihnen. Er hat im vergangenen Jahr seinen Magister gemacht und bei den Prüfungsvorbereitungen ein paarmal zu Ritalin gegriffen. "Ich war mit den Massen an Büchern einfach überfordert und hatte totale Angst zu versagen." Sein Hausarzt hat dem ehemaligen Politikstudenten das Mittel verschrieben. Es sei leicht gewesen, den Arzt davon zu überzeugen, dass er etwas brauche, um sich besser konzentrieren zu können. Andere bestellen sich Medikamente im Internet oder kaufen sie von Bekannten. Es gebe dafür einen richtigen Markt, sagt Lieb.

Und der Zugang zu solchen Mitteln werde immer einfacher. Ritalin wird eigentlich Kindern verschrieben, die an einer Konzentrationsschwäche leiden. Es soll ihnen helfen, Ablenkungen auszublenden. Studien zur Wirkung bei gesunden Erwachsenen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen, wie Lieb berichtet. Eine Leistungssteigerung sei nicht klar auszumachen. Viele Konsumenten behaupteten zwar, dass Ritalin ihnen helfe, aber dahinter stecke ein Placeboeffekt.

Auch Keller hat sich von dem Medikament mehr erhofft. Er konnte sich nach der Einnahme einer Tablette zwar vier Stunden in seine Bücher vertiefen, ohne eine Pause zu machen oder sich unkonzentriert zu fühlen. Aber wenn er das Buch aus der Hand gelegt habe, sei es ihm schwer gefallen, sich an den Inhalt zu erinnern. "Das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei Ritalin und Stimulanzien ist denkbar ungünstig", sagt Lieb. "Unruhezustände und Schlafstörungen sind häufig."

Gesunde sollten solche Medikamente nicht einnehmen. Hinzu kommt die Gefahr der Abhängigkeit. Wer einmal ein leistungssteigerndes Mittel nimmt und ein Erfolgserlebnis hat, der kann sich nicht sicher sein, ob ihm ohne Gehirndoping das Gleiche gelungen wäre.

Philipp Keller hat vor seinem jüngsten Vorstellungsgespräch wieder Ritalin genommen. Nur zur Sicherheit, wie er sagt. Im Rückblick findet er, dass ihm das Medikament geholfen habe, bei der Stange zu bleiben und nicht in Panik zu geraten. Lieb ist der Meinung, einen ähnlichen Effekt könne man auch mit Kaffee und ausreichend Schlaf erzielen. Oder einfach damit, rechtzeitig mit dem Lernen anzufangen. Es gibt Studien, die zeigen, dass Studenten zwar nach anderen Möglichkeiten suchen, ihre Leistung zu steigern, und die Risiken von Ritalin und illegalen Aufputschmitteln kennen. Ethische Gesichtspunkte spielen bei ihrer Entscheidung aber keine Rolle. "Wie andere durch ihre Prüfung kommen, ist mir egal", sagt auch Keller. "Ich habe eine vorzeigbare Note, das zählt."

Noch sind die erhältlichen Substanzen nicht effektiv genug, um den gerechten Wettbewerb zu gefährden. Wenn es jedoch so weit sei, müsse man sich die Frage stellen, ob solche Wirkstoffe überhaupt freigegeben werden dürften, meint Lieb. Diejenigen, die keine leistungssteigernden Substanzen einnehmen wollten, würden unter erheblichen Druck geraten. "Sie müssten die Pille
einwerfen, um mithalten zu können. Und das kann man sich ja kaum wünschen."


© 2012 PMG Presse-Monitor GmbH
F.A.Z. Rhein-Main-Zeitung vom 25.09.2012

Zur Verfügung gestellt für die Mitglieder des VNN e.V.

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