„In
die Kinder wird zu viel
reingestopft“
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das System Schule neu
zu
überdenken, findet die ehemalige Schuldirektorin
Kati
Ahl. Im FAZ-Interview vom 16.10.20, erklärt sie, warum Verunsicherung produktiv
sein kann und warum Noten, Lehrpläne und das Verhältnis zwischen
Schülern
und Lehrkräften auf den Prüfstand müssen.
Frau
Ahl, Sie waren mehrere Jahre lang Schuldirektorin, arbeiten jetzt als Schulentwicklungsberaterin
und sagen, dass die Schule, wie wir sie seit vielen Jahrzehnten kennen, nicht
mehr zur Gegenwart passt. Warum?
Wenn
ich an meine Schulzeit zurück denke, dann hatten wir
einen
Walkman, und unser Berufswunsch war Lehrerin, Forscherin, Fußballspieler oder
Pilot. Viele Kinder, die heute in die Schule gehen, werden in Zukunft Berufe
ausüben, die es noch gar nicht gibt. Sie haben alle schon heute keine Walkmen mehr,
sondern Smartphones. Man sprach auch früher von veränderter Kindheit, aber was
jetzt passiert, ist eine ganz neue Menschheitsphase. Und deshalb muss Schule in
diesen Zeiten besonders innovativ sein.
Was
heißt das?
Ich
plädiere erst einmal dafür, dass man das Alte nicht wegwirft. Ich finde es wichtig,
das Neue zu lehren und zum Beispiel so etwas wie Allgemeinbildung zu bewahren.
Und
was ist das Neue?
Am
wichtigsten ist es, das Kind in den Mittelpunkt zu stellen.
Vermutlich
würden viele Schulen sagen, dass sie das jetzt
schon
tun. Aber wir haben während der Corona-Krise gese -
hen,
dass Kinder und Jugendliche überhaupt keine Lobby haben. In der Copsy-Studie
der Uniklinik Hamburg-Eppen dorf kam heraus, dass 71 Prozent der Jugendlichen
psychoso-matische Beschwer den in dieser Zeit hatten.
Damals
gab es aber auch keinen Präsenzunterricht. Wie konnte man das Kind dann in den
Mittel punkt stellen?
In
dieser Zeit lag in den Schulen der Fokus darauf, die Prüfungen durch zu führen,
und nicht bei der Frage, wie es den Kindern geht.
Und
ist das in normalen Zeiten auch so?
Wir
sind in unserem Schulsystem zu stark auf das Erledigen
von
Aufgaben fixiert. Es gibt beim Lernen aber immer einen
Inhalts-
und einen Beziehungsaspekt. Letzterer ist für die
Entwicklung
der Kinder enorm wichtig. Jedes Kind, das die
Schule
verlässt, sollte im Idealfall wissen, was seine Talente
sind,
weil es darin von den Lehrern gestärkt und ermutigt
wurde.
Und
das passiert nicht?
In
Deutschland gibt es 52 000 Schülerinnen und Schüler, die
ohne
Abschluss die Schule abbrechen. Nach einer Studie der
DAK
berichtet jedes zweite Kind, dass es erschöpft ist. Das
sind
Alarmsignale. Man kann es auch auf sich selbst übertra -
gen:
Wann fühlen wir uns nach zwölf Jahren noch wohl auf
der
Arbeit? Dann, wenn wir wertgeschätzt und gesehen werden, wenn wir es als sinn
vollerleben, was wir tun, und wenn wir wirklich etwas bewegen können. Und das
fehlt den Kindern oft. Sie sind relativ passiv in der Schule. Und dann schaltet
das Gehirn auf Flugmodus.
Wir
müssen also auch das Verhältnis von Lehrern zu Schülern überdenken?
Studien
zufolge verhalten sich viele Lehrkräfte oft verletzend.
Schüler
fühlen sich bloß gestellt oder herab gesetzt. Aber auch Lehrer, die sich nicht
so verhalten, müssen sich fragen, ob sie ein Kind ausreichend wertschätzen, ob
sie Blickkontakt halten, wenn sie mit dem Kind reden. All das sind Beziehungsaussagen,
und die sind sehr wichtig, denn das Gehirn ist viel eher lernbereit, wenn der
Mensch sich wohl fühlt.
Welche
Botschaft nehmen die aus der Schule mit? Womöglich die, dass sie nichts wirklich
gut können und dass sie nicht wertgeschätzt werden.
Wie kann man aber ohne Noten zum Beispiel einschätzen, ob
ein
Kind für das Gymnasium geeignet ist?
Man
könnte das etwa durch Eingangstests tun. Oder man
könnte
die Lernschritte beschreiben: Kann ein Kind bis 100
rechnen,
oder braucht es noch Unterstützung. Wie gut liest es.
Damit
würde man auch die Selbsteinschätzung der Kinder fördern. Und Noten würden
nicht wie eine Naturgewalt über sie hereinbrechen.
Verkürzter
Ausschnitt aus dem FAZ Interview:
Die
Fragen stellte Anke Schipp.
Kati
Ahl, „Schule verändern – jetzt!“,
Verlag Klett Kallmeyer, 22,95 Euro.