Dienstag, 6. November 2012

Wissenschaftler loben Waldorfschulen

Sie fördern Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung. Eine neue Studie zeigt, dass sie
lebenstüchtigere Schüler entlässt
Die Abschlussnoten von Schülern an Waldorfschulen unterscheiden sich nicht von den Noten
an RegelschulenWaldorfschüler lernen begeisterter, individueller und mit weniger
Leistungsdruck


Fanny Jiménez
Waldorfschüler - sind das nicht die, die in der Schule keine Noten bekommen, dafür aber ihren Namen tanzen lernen? Reformpädagogik hat es im öffentlichen Ansehen schwer und wird oft mit skeptischer Distanz betrachtet. Das liegt auch daran, dass es schwer ist einzuschätzen, wie sinnvoll alternative Lernkonzepte tatsächlich sind. Der Waldorfpädagogik geht es nicht anders, auch wenn sie historisch etablierter ist als andere Reformansätze.

Auf einer Pressekonferenz stellte Andreas Schleicher, OECD-Bildungsexperte und internationaler Koordinator der Pisa-Studien, nun eine Untersuchung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vor, die Bildungserfahrungen von Waldorfschülern untersucht hat. Es handelt sich um die erste größere Studie in Deutschland, die Schulqualität und Lernerfahrungen auf diese Weise erhoben hat. Mehr als 800 Schüler an zehn Schulen im Alter von 15 bis 18 Jahren wurden befragt. Das Ergebnis: Waldorfschüler lernen im Vergleich zu Schülern an staatlichen Schulen mit mehr Begeisterung, langweilen sich weniger, fühlen sich individuell gefördert und lernen in der Schule besonders ihre Stärken kennen. Während das Lernen 80 Prozent der Waldorfschüler Spaß macht, sind es in Regelschulen nur 67 Prozent.

Auch das Schulklima und die Lernatmosphäre wird vom weitaus größten Teil der Befragten, 85 Prozent, als angenehm und unterstützend beschrieben. An Regelschulen finden das nur 60 Prozent. Weiterhin wird die Beziehung zu den Lehrern deutlich besser beurteilt - 65 Prozent der Waldorfschüler stehen hier knapp 31 Prozent der Regelschüler gegenüber. Auch die Identifikation mit der Schule ist größer als bei anderen Schülern; und zudem leiden Kinder an Waldorfschulen bedeutend seltener an somatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafstörungen. Für Schlafstörungen etwa stehen elf Prozent hier 17 an Regelschulen gegenüber. Für die Experten ist dies ein Hinweis darauf, dass Leistungsdruck und Prüfungsangst in Waldorfschulen weitaus weniger Raum gegeben wird als dies an Regelschulender Fall ist - und dass den Schülern dies gut tut.

Die Betonung der Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung bereite die Kinder optimal auf das Leben vor, das sie nach dem Schulabschluss erwartet.
"Es gibt ein hohes Maß an Kongruenz zwischen dem, was die Welt von Menschen fordert, und dem, was an Waldorfschülern gefördert wird", sagte Andreas Schleicher. Die Reproduktion von Fertigwissen habe immer wenigerBedeutung, so der Bildungsexperte.
"Heute kann man die meisten Prüfungen allein mithilfe eines Smartphones bestehen", sagt er, "wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder schlauer sind als ein Smartphone, dann müssen sie ihnen andere Kompetenzen beibringen." Wichtig sei, Wissen kreativ und lösungsorientiert auf neue Bereiche anzuwenden. Darauf werde in Waldorfschulen traditionell großer Wert gelegt, ebenso wie auf das lebensnahe Lernen. Es ermögliche Lernen in der Tiefe, das Wissen nicht nur bis zur nächsten Prüfung konserviere.

Die Fragebogenstudie wurde in enger Anlehnung an etablierte Studien zur Schulzufriedenheit an Regelschulen entwickelt, etwa an Untersuchungen des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. Daher konnten die Wissenschaftler die Waldorfschulen mit den staatlichen Schulen vergleichen - auch wenn es sich dabei streng genommen natürlich nicht um eine Kontrollgruppe handelt. Nun ist es zwar schön, wenn Waldorfschüler mit mehr Freude lernen, aber lernen sie auch vergleichbar gut wie Kinder aus Regelschulen?

Auch hier gibt es schwerlich etwas zu bemängeln. Studien zeigen, dass es zwischen den Abschlussnoten von Waldorfschülern und denen von Schülern auf staatlichen Schulen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede gibt, auch nicht, wenn man die Durchschnittsnoten nach der Art des Schulabschlusses vergleicht. Nur ein verschwindend kleiner Anteil der Waldorfschüler macht einen Hauptschulabschluss, und Realschulabschluss und Abitur halten sich die Waage. "Es gibt kein Bundesland, das mir bekannt ist, wo Waldorfschüler schlechter abschneiden", so der Autor der Studie, Heiner Barz.

Bereits 2007 hatte Barz, Leiter der Abteilung für Bildungsforschung an der Heinrich-Heine- Universität, eine Absolventenstudie an ehemaligen Waldorfschülern vorgestellt. Dort zeigte sich, dass Absolventen von Waldorfschulen überdurchschnittlich häufig selbst Lehrer werden, aber auch Ärzte, Ingenieure, Geistes- und Naturwissenschaftler. Dieses Ergebnis passt zum Befund einer Pisa-Studie, nach der Waldorfschüler weit überdurchschnittliche naturwissenschaftliche Kompetenzen aufzuweisen haben.

Kausalität einwandfrei nachzuweisen sei allerdings fast nie möglich, warnte Schleicher. Zu welchem Prozentsatz ein erfolgreiches Schulprojekt auf die Pädagogik oder auf von vornherein bessere Startbedingungen der Schüler zurückzuführen ist, das sei in aller Regel nicht klar feststellbar. Generell gelte, dass pädagogische Effekte ebenso wie Effekte des Wohnviertels oder des Elternhauses zusammenspielten. Der soziale Hintergrund von Waldorfschülern jedenfalls reiche als alleinige Erklärung für ihren Schulerfolg nicht aus. Ein bildungsnahes Elternhaus allein sei dafür noch lange keine Garantie. Schleicher betonte ebenfalls, dass die Frage, was Reformpädagogik sei, vom Blickwinkel abhänge.

So werden viele Elemente der Waldorfpädagogik in Finnland, einem der Pisa-Gewinner, bereits seit Jahren in allen Schulen praktiziert. "Dort hat jede staatliche Schule mehr Handlungsfreiraum als Schulen in freier Trägerschaft hier bei uns heute haben", sagte er. Dabei gebe es über alle Schultypen hinweg recht große Übereinstimmung unter Experten, Schülern und Lehrern, welches Lernumfeld optimal sei: Ein hohes Maß an Eigeninitiative, viel Gestaltungsspielraum und Unterstützung.
"Und diese Kombination sieht man an guten Schulen", so der Bildungsexperte. Lernpfade zu individualisieren, motivierende Leistungsrückmeldungen zu geben und Schüler zu befähigen, gemeinsam und voneinander zu lernen, das seien Elemente, welche auch die Pisa-Studie für den Erfolg moderner Bildungssysteme maßgeblich herausgestellt habe.

Die Situation der Waldorfschulen ist speziell, da sie in freier Trägerschaft entstehen. 230 Waldorfschulen mit rund 85.000 Schülern gibt es in Deutschland - weltweit sind es über 1000. Deutschland hat die meisten, gefolgt von den USA und den Niederlanden. Die Ausbildung der Waldorflehrer wird nicht aus Steuermitteln finanziert, sondern von den Eltern getragen. Nach Angaben von Steffen Koolmann vom Institut für Bildungsökonomie in Alfter geben Eltern dafür je Waldorfschüler 125 Euro jährlich aus.

Henning Kullak-Ublick vom Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen sieht hier die Politik in der Pflicht, die Trennung von staatlichen Schulen und Schulen in freier Trägerschaft aufzuheben, etwa durch Finanzierungshilfen.
Die Studie selbst ist als Buch ab Oktober unter dem Titel: "Bildungserfahrungen an Waldorfschulen. Empirische Studie zu Schulqualität und Lernerfahrungen" im Buchhandel erhältlich.

Urheberinformation: (c) Axel Springer AG

© 2012 PMG Presse-Monitor GmbH
Die Welt vom 27.09.2012

Zur Verfügung gestellt für die Mitglieder des VNN e.V.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen